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  • Julian

Platten des Jahres 2023: Jazz & Grooves

Aktualisiert: 27. Dez. 2023

In dieser Ausgabe tschilpt die Hi-Hat, die Snare zuckt und die Bläser trällern. Auch für Jazz & Grooves hatte ich dieses Jahr einiges übrig, allerdings selten in der blütenreinen Variante, sondern oft für die Platten, in denen Brückenschläge vollzogen werden. Beispielsweise zwischen HipHop und Jazz.


Kassa Overall - Animals


Kassa Overall reitet auf „Animals“ ausgiebig aus. Sein mit Rap und Gesang gesprenkelter Jazz tänzelt dabei spielend leicht auf der feinen Linie zwischen Experimentierfreude und Hörbarkeit, zwischen Zugänglichkeit und Sperrigkeit. Handwerklich geht Kassa an seine Songs ähnlich ran wie Meister der Brückenschläge wie Kendrick Lamar oder Moor Mother. Zu ersterem fehlt natürlich noch der Fame, zu zweiterer die konzeptionelle Collagenhaftigkeit. Kassa Overall widmet sich dabei allerhand Themen aus dem Zeitgeschehen, verteilt dabei aber keine Schellen, sondern bevorzugt die Lyrik als sanfte Brücke für brutale Wahrheiten. Andauernde systematische Ungerechtigkeiten z.b. oder den Wahnsinn der Selbstoptimierung und das Streben nach maximalem Profit.

Dabei wird es zuweilen explizit, aber nie wird sich hier zum Sprachrohr aufgeschwungen oder Knowledge angedroht. Nein Kassas Weg ist immer noch den Wahnsinn nicht zerschlagen zu wollen, sondern ihn in den passenden Farben, anschaulich auszumalen. Und dabei maximal ehrlich zu sein, die Traumata nach außen zu drehen, zu sagen: Schau, hier: eine wunderschöne Wunde und daneben die Narbe die an die brüchige Vergänglichkeit erinnert.

Und wenn es mal nicht um Text geht, dann geht es um musikalische Dekonstruktion wie in „Still Ain´t find me“ oder Katharsis durch biografisches Songwriting und entsprechend weite musikalische Räume, um das Ganze wirken zu lassen wie bei „Make my way back home“

Kassa Overall findet dabei immer wieder eindrückliche Bilder für die eigene Innenwelt und überraschende musikalische Entsprechungen, sowie interessante Samples.

„Animals“ ist größtenteils außergewöhnlich hübsch arrangiert, brillant geschrieben und umgesetzt. So eine klassische Jazzausbildung und eine jahrzehntelange Legacy als Drummer, Produzent und Bandleader inklusive Zusammenarbeit mit Leuten wie Donald Byrd, Yoko Ono oder Theo Croker, der auch bei einigen der Songs auf Animals mitmischt, zahlt sich am Ende dann halt schon aus. In diesem Fall in einem tollen, vor Ideen übersprühendem Album an den Schnittstellen von Jazz, Grooves und Rap.

Super Ding!


Moor Mother - Jazz Codes(Deluxe Edition)


Genaugenommen ist nur eine Erweiterung: Moor Mother hat mit "Jazz Codes" schon 2022 ein absolutes Highlight veröffentlicht. jetzt legt sie nochmal sechs Stücke drauf, was "Jazz Codes" zu einem epischen Album von 24 Stücken anwachsen lässt. Auch Moor Mother bezieht sich auf viele Jahrzehnte afroamerikanischer Kulturtechniken und die Lust Jazz und Spoken Word, Spirituals und Rap zu einem stilistisch irren und aufregenden Ritt zu verquicken. Weil es eben zwischen diesen Stilen Querverbindungen und Wechselwirkungen gibt gerät "Jazz Codes" äußerst stimmig.



Retrogott & Perfektomat - Zeit hat uns


Zu dieser Platte hab ich eine kleine Einordnung und Rezension geschrieben, hier ein kleiner Auszug:


Wo hört eigentlich Gil Scott Heron auf und wo fängt Rap an? So richtig auseinander denken kann man beides nicht, ist ein Teil von Scott-Herons eben jene Spoken Word Kulturtechnik. Auch der Retrogott findet in "Zeit hat uns" seine Vorbilder und Bezugspunkte eher in US-amerikanischen Reim- und Poesietraditionen. Dies geht weit über Rap und HipHop hinaus und hat nur noch in Spurenelementen mit Deutschrap zu tun. Deutschrap? Was soll das überhaupt sein? Und wo ordnet sich da der Retrogott ein? Im "Podcast namens Bernd" von MC Rene spricht Retrogott über seine Schwierigkeiten mit diesem Begriff, nationalisiert er doch eine internationale Musikform. Auch sonst äußert er kluge Gedanken z.B. zum Thema Cultural Appropriation. Standing on the shoulders of giants als Prinzip, liegt auch dem Album "Zeit hat uns" inne. Daraus macht die Platte keinen Hehl. Dabei geht es nicht nur um das gesprochene Wort im Bett jazziger Musik von Perfektomat, für die das Wort Beats eigentlich nicht ausreicht. Es klingt nach Jazz im Ziegelsteinkeller, nicht nach HipHop Jam. Wobei, wozu eigentlich den Gegensatz aufmachen, wenn doch eh einiges ineinander fließt.

Web Web & Max Herre - Web Max II


Eine weitere Rap-Legende hat sich dieses Jahr wieder mit einer Jazzband zusammengetan, um ein tolles Album zu veröffentlichen. Allerdings findet sich auch "Web Max II" keinerlei direkte Hinweis auf Sprechgesang außer Spoken Word Passagen. Die Platte zeigt sich trotzdem stilistisch offen: Hüfttief wird hier im Spiritual Jazz gewatet, aber auch Polyrhythmisches und cinematische Grooves hat seinen Platz. Web Web setzt sich zwar aus gestandenen und anerkannten Jazzkönnern zusammen, holt sich aber immer wieder Unterstützung u.a. von Marja Burchard, Bandleaderin der ewigen Krautrockband Embryo, die mit ihrem Vibraphon angerückt ist und für ein Highlight der Platte sorgt. Ingesamt ein tolles Album, das sich gleichermaßen zum nebenbei und genau zuhören eignet.








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