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  • Julian

Laberliebe: "140 Tabs offen"- Ein Podcast über ADHS

ADHS ist ein Thema, das immer mal wieder in der Öffentlichkeit auftaucht. Ob die kontroverse Abgabe von Ritalin, eine massive therapeutische Unterversorgung von Betroffenen oder "ADHSler" als Schimpfwort und Abwertung- rund um das Thema gibt es eine Menge Halbwissen und Mythen.


In "140 Tabs offen" nähern sich Selda Kaya und David Häußer dem Thema aus Betroffenenperspektive und nach dem Grundsatz der Psychoedukation. In den ersten zwei Folgen werden Grundlagen zu ADHS erklärt und eigene Erfahrungen beschrieben. Zwar sind erst die Folgen 0, 1 und 2 draussen, in den nächsten Folgen soll es auch um Themen wie ADHS im Kapitalismus und ADHS in anderen Kulturen gehen. Insgesamt reiht sich "140 Tabs offen" in eine Riege unterschiedlicher Formate ein, die sich auch aus popkultureller Perspektive und entsprechenden Akteurinnen und Akteuren mit Gesundheit und Psyche auseinandersetzen.


Die ersten drei Folgen sind schon mal inhaltlich spannend und angenehm zu hören, was auch am ausgeprägten, persönlichen Zugang und der Reflexionsfähigkeit von Selda und David liegt. Der Podcast ist ein Beitrag zur Selbstedukation und kann natürlich keinen therapeutischen Umgang mit dem Thema ersetzen, aber eignet sich hervorragend für den thematischen Einstieg.


"140 Tabs offen" auf Spotify und Podigee

Selda Kaya ist Schauspielerin, Musikerin und Sprecherin.

David Häußer ist musikalisch als form und prim unterwegs und ist darüber hinaus politisch aktiv, als Illustrator und Grafiker


Interview mit David Häußer über "140 Tabs offen" und ADHS an sich


In eurem Podcast setzt ihr euch aus Betroffenen-Perspektive mit ADHS auseinander. Was ist ADHS eigentlich?


ADHS ist eine Abweichung der Hirnfunktionen von der “Normalität” einer gewissen Mehrheit von Menschen, insbesondere in Bezug auf das Hormon Dopamin, was für Motivation zuständig ist. Symptome sind Unruhe, höhere Reizoffenheit, Ablenkbarkeit, Lebensverzettelung, Kreativität, Impulsivität. Ich nenne es nicht explizit Krankheit, weil das z.B. für mich nicht so zutreffend ist und weil es sehr schnell zu Stigmatisierungen führt, die wiederum das Problem vergrößern. Es gibt aber definitiv große Herausforderungen, die mit ADHS einhergehen können. Aber eben nicht ausschließlich, weil die Leute halt dann doch unterschiedlich sind. Im Spätkapitalismus mit Effizienzwahn, Verwertbarkeitsdruck, Aufmerksamkeitsökonomie, Faschisierung usw. ist es mit ADHS aber sicher nicht leichter.


Gibt es Verhalten und Erleben, das typisch für ADHS steht?


Da gibts sicher auch andere Perspektiven, aber ich selbst würde typische Merkmale so beschreiben: 1. Eine sehr große Vielfalt an Interessen, Betätigungsfeldern, Begeisterung für sehr vieles. Da ist immer was los. Auch im Kopf. Wir reden dann auch gern mal ohne Punkt und Komma. Ohne Leerzeichen. In Zungen. Und fangen ständig neue Dinge an, bevor andere erledigt sind. Ich hörezudem Zeit meines Lebens, dass ich manchen Leuten “zu viel” bin. Mittlerweile weiß ich, womit das auch zusammenhängt. 2. Chaos. Sich für sehr vieles zu interessieren, heißt ja nicht, dass da Ordnung herrschen muss. Schule, Arbeit, Studium oder was auch immer: Alles auf einmal und dann noch währenddessen tausend neue Aufgaben, Leute, Gelegenheiten. Oh, ein Schmetterling! 3. Erschöpfung: Das kann ja nicht ewig so weitergehen. All die Reize, die man recht ungefiltert wahrnimmt, Pläne und überschnellen, impulsiven Zusagen und Versprechen, die man abgegeben hat, holen einen regelmäßig ein. Ich bin z.B. geräuschempfindlich. Lustig, dass ich gleichzeitig auch recht laut und raumgreifend bin, wenn ich leidenschaftlich involviert bin, z.B. bei politischen Diskussionen. Oder umso anstrengender für andere.


Welchen Einfluss hatte ADHS auf deine Musikkarriere?


Ich bin gerade erst dabei, das zu verstehen, aber ich glaube, es gibt da sehr große Auswirkungen. Zuerst einmal ist allein die Frage “Was machst du denn für Musik” für mich fast schon Überforderung, weil sie eher ins Marketing gehört als in die Kunst. Ich mache sehr viel unterschiedliche Sachen, weil ich meinen Interessen eben nachgehe. Also form und prim und Musik für Menschen und Instrumentalmusik für Performances, Beats und Gedichte, aber auch Illustrationen und Videos. Und Glitch Art, Plakate und Grafik. Und was weiß ich noch alles. Versuch das mal in drei Begriffe zu bringen. Dann hat meine Chaos-Störung dazu geführt, dass ich aus allen möglichen guten Gelegenheiten und Erfolgen letztlich fast nichts gemacht habe, weil ich zu sehr im Klein-Klein der aktuellen Hustles und Struggles gefangen war. Bis ich in einer Depression gelandet war, weil entsprechend wenig ging. Aber ADHS wirkt sich auch sehr positiv auf den Schaffensprozess aus. Ich bin immer inspiriert, ich hatte original noch nie Schreibblockaden. Mir ist niemals langweilig, mir fallen immer Sachen ein, die mich begeistern. Künstlerisch mache ich mittlerweile ungefähr alles, worauf ich Bock habe und das ist sehr viel. Ich brauche nur definitiv ein Management, das die zu nervigen Aufgaben übernimmt, an denen ich über die Maße scheitere.


Was hilft dir?


Menschen treffen. Internet ist nicht so gut, zumindest im Spätkapitalismus kommt da auch nichts bei rum, wo es nicht wieder nur um Profite für große Firmen geht. Also Internet ist geil, Menschen sind super. Aber “Social” Media heißt halt milliardenschwere Werbeplattformen, die uns alle aussaugen, Einsamkeit, Druck und noch mehr Depression.


Was verstärkt die Symptomatik?


Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Stress und Druck helfen sicher nicht, aber andererseits sind Deadlines auch irgendwie doch hilfreich. Kürzlich konnte ich meinen Part für Daniel Deckers Single in 30 Minuten schreiben und sehr schnell aufnehmen, weil ich mal wieder bis auf den letzten Tag gewartet habe. Vielleicht sind verständnislose Reaktionen von anderen besonders für mich ein großes Problem? Ich muss das noch rausfinden.


Wie ist euer Podcast entstanden?


Ich kenne Selda seit ein paar Jahren und wir haben ungefähr zur selben Zeit herausgefunden, dass wir ADHS haben. Ich original, weil Selda von der Erkenntnis bei sich geschrieben hat. Und dann haben wir parallel an einem Studioraum herumgedacht, der letztlich gescheitert ist (HAT JEMAND IN +- KREUZBERG EINEN STUDIORAUM???) und dabei - typisch ADHS - wieder ein neues Projekt begonnen: Heeeyyy, lass doch mal einen Podcast über ADHS machen. Das gibts noch nicht. Und ich hatte immer noch keinen Termin bei einer ärztlichen Fachkraft gefunden, die mich offiziell diagnostiziert hätte. Weil alle Anlaufstellen unfassbar überlaufen sind. Jetzt aber: Im November endlich, nach fast einem Jahr Suche.


Inwiefern hilft die Diagnose, inwiefern ist sie eine Last?


Für mich war es die reinste Offenbarung. Ich war im Dezember ‘21 etwas ängstlich, weil meine Psychotherapie nur noch ein paar Monate gehen würde und noch etwas fehlte. Diese Lücke hat die Erkenntnis mit ADHS sehr gut gefüllt, ich war fast schon euphorisch. Auch wieder klassisch ADHS. Ich sah sofort all die vielen MÖGLICHKEITEN. Aber ich wusste auch, dass ich vorsichtig sein muss, weil ich mich ja auch kenne. Also lieber auch gleich selbst bremsen. Mittlerweile bin ich aber 100% sicher. Für mich dürfte das eines der Dinge sein, die mein Leben am meisten geprägt haben. Es nun aber zu wissen, statt nur planlos an den Symptomen und vor allem den offenen Fragen zu leiden, ändert fast alles. Die negativen Auswirkungen hat man ja eh, aber jetzt kann ich damit halt umgehen. Bisher sehe ich keine Last. Vielleicht ändert sich das noch, wenn es irgendwie negative Auswirkungen hat, darüber so offen zu reden. Aber ehrlich gesagt sind auch jetzt schon die positiven Reaktionen so krass, dass da schon einiges passieren müsste, um das noch negativ auszugleichen. Am laufenden Band checken gerade etliche männliche Freunde - manche sogar über den Podcast -, dass sie damit auch zu tun haben.


Welche Literatur zum Thema kannst du empfehlen?


Bücher habe ich mir vor allem besorgt, aber noch nicht gelesen, hehe. Naja doch, “Lass mich, doch verlass mich nicht: ADHS und Partnerschaft” war hilfreich. Die anderen kommen noch. Bald! Wirklich, bald lese ich die ganz bestimmt! Aber im Internet gibts auch viele ganz hilfreiche Ratgeber:


Was soll die Welt wissen für den Umgang mit Leuten, die unter ADHS leiden?


Ich glaube, es hülfe schon, das Thema zu behandeln, sich dafür zu interessieren und z.B. nicht so sehr als Leiden anzusehen. Und darüber sprechen, alle. Ich leide nicht unter ADHS, ich passe nur nicht immer rein. Wenn aber in Deutschland mit Abweichung autoritär umgegangen wird, leide ich zwar unter den Konsequenzen, aber letztlich leide ich unter den Verhältnissen, nicht primär an ADHS. Man kann ja z.B. mit Kindern, die vorlaut und neunmalklug sind, auch unterschiedlich umgehen. Man kann sie bestrafen oder man schaut, was sie brauchen und kümmert sich drum. Ja klar, es ist mitunter unfassbar anstrengend, von meinen Gefühlen so hin und her geworfen zu werden, aber Emotionen wirklich zu spüren gehört für mich zum Leben, ich fühle mich nicht krank und gestört. Ich spreche mehrere Sprachen und kann ziemlich viele Sachen, weil ich sie “einfach” gemacht habe, statt erst einmal 40 Jahre ins innere Plenum zu gehen. Aber dann ist es auch manchmal die “normale” Welt, die darunter leidet, dass ich es eben ganz dringend anders machen MUSS. Es isch komplex, aber reden hilft.

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