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  • Julian

Buchclub: Antonia Baum - Siegfried

Die namenlose Protagonistin von Antonia Baum kratzt in "Siegfried" an der Tür einer Psychiatrie, aber in Wahrheit blickt sie zurück auf ihr bisheriges Leben. Und das wird von den Restbeständen vergangener Erfahrungen bestimmt.


Wir sind, wenn man den Verheißungen und Narrativen des Zeitgeists glauben mag, ja ach so frei und können unbeschwert jederzeit unser Leben ändern und neue Wege einschlagen. Weil diese Erzählung so wirkmächtig wie verlockend erscheint, stoßen wir ständig an eine gläserne Decke, die für manche sehr niedrig hängt. Für die Protagonistin von "Siegfried" hängt sie durchschnittlich niedrig und trotzdem tut der Kopf weh.


Die Ich-Erzählerin ist Autorin, Lohnarbeiterin, Mutter, Partnerin, Stieftochter, Tochter, Stiefenkelin und Geliebte. Die Reihenfolge kann sich manchmal ändern, doch innerhalb dieser Koordinaten bildet sich ihr Leben ab. Und das wird ziemlich durcheinander gewirbelt. Irgendwann kann sie nicht mehr und macht sich auf den Weg in therapeutische Behandlung. Und wie das häufig ist auf dem Weg in eine Erschöpfungsdepression, kommen genau dann alte, schmerzhafte Geschichten hoch. In diesem Fall: Von der Stiefgroßmutter, die aus der Zeit gefallen scheint und dem Stiefvater, der so sehr Boomer ist, wie man es nur sein kann. Und dann ist noch die Mutter, die immer so wirkt, als sei aus der Welt gefallen und ansonsten flüchtig durch den Roman zu schweben scheint. Alex, der Partner ist ein chaotischer Träumer, dessen Hoffnungen zunehmend verblassen und im klein-klein des Alltags zerfallen. Irgendwo zwischen diesen Figuren versucht die Protagonistin alles auszugleichen. Sie erinnert an eine Person, die mit einem einzigen Eimer versucht während eines Wolkenbruchs Regen auf einem Dachboden voller Löcher aufzufangen. Diese ungute Mischung aus innerer Unruhe, äußerer Anpassung und Verantwortungsgefühl, so scheint es, kann nur im Zusammenbruch enden. Vor allem, wenn dazu eine Biografie kommt, die nicht unbedingt tief verstörend, aber eben auch nicht reibungsfrei und widersprüchlich ist.


Daraus entwickelt sich eine Geschichte, die in ihrem Realismus schmerzhaft ist und weil er die Limitierungen der eigenen Herkunft auf sezierende Art und Weise beschreibt. Weil er die gläserne Decke die unser Leben von unseren Träumen trennt, mit Beton überzieht.

In dieser Ehrlichkeit steckt eine ernüchternde Kraft, denn sie erkennt an, dass es Kräfte im Außen und in uns gibt die an uns und unseren Träumen nagen. Die Illusionen als solche aufzeigt und klar macht, dass auch eine Psychotherapie oft dann am effektivsten ist, wenn sie schmerzhafte Selbsterkenntnis provoziert. Also bleibt man dran, geht durch den Leidensweg von den ungleichen und mangelhaften Beziehungen Kind-Eltern, Partner-Partnerin, Gesellschaft-Individuum, Gegenwart-Vergangenes. Man merkt dass hier eine Journalistin schreibt, die jüngere deutsche Geschichte subtil einwebt und die Menschen, die aus unterschiedlichen Zeiten und Biografien kommen, entsprechend entwirft. Schnell könnte man sagen: daher kommt auch der realistische Blick auf Zusammenhänge. Aber da ist noch was anderes. Eine Art messerscharfe Schicht voller Metaebenen und geradezu philosophischen Aphorismen, die über dem harten Realismus liegt.

Hier zum Beispiel:

„Ich fragte mich ob mein sich täglich erneuernder Wunsch endlich einmal mit allem fertig zu sein nicht eigentlich bedeutete, dass ich tot sein wollte."

So ernüchternd geht es zwar nicht immer zu, aber Erbauungsliteratur geht anders.


Denn Siegfried ist auch die Beschreibung einer Erschöpfungsdepression, die in inneren und äußeren ungelösten Konflikten ihren Ursprung hat. Im Wechselspiel aus Ansprüchen ans Leben und sich selbst und dessen Unerfüllbarkeit.

Siegfried ist auch ein Buch über kindliches Schamgefühl und wie es sich ins Erwachsenenleben transformiert.

Und Siegfried beschreibt die schleichende Erosion einer Beziehung und der Unfähigkeit deren Risse mit dem endlichen Rohstoff jeder Beziehung zu füllen: Der Zuneigung.

Im Prinzip geht es um die universelle Frage: "Wie konnte es passieren dass wir uns gegenseitig so verloren gehen?"

Antonia Baum liefert, und das ist dann auch das starke am Roman Antworten: eine Realität aus Prekariat, emotionalen Wunden, die vielleicht zu gehen aber nie ganz heilen, gemeinsame elterliche Verantwortung, die Verlockung des anderen Lebens und damit des Eskapismus in eine vermeintlich schönere Realität.


Eine andere Frage, die der Roman verhandelt ist: Werden wir wie unsere Eltern?

Und eigentlich spricht einiges dafür. Die Protagonistin putzt, wenn sie nervös ist, wie ihre Mutter.

Sie wartet manchmal nächtelang auf ihren Partner, wie ihre Mutter.

Und sie versucht alles um es dem Partner recht zu machen, wie ihre Mutter.

Und sie betrügt ihn wie ihre Mutter.

Doch genau wie das Ende des Romans wird die Frage, ob daraus eine Determinierung abzuleiten sei, offen gelassen.


Genau hier liegt Siegfrieds Stärke: Der transgenerativen Traumavererbung schleudert Baum ein trotziges "Schau mer mal" entgegen.

Und das ist eigentlich schon mehr als man von einem Roman verlangen kann.


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